Was ist Amygdalin?
Amygdalin, auch Amigdalina, Laetrile (Lätril), Mandelonitril oder Vitamin B17 genannt, ist ein toxischer sekundärer Pflanzeninhaltsstoff, der in den Samen von Steinfrüchten (dem weichen Kern des holzigen Kerns) vorkommt. Dazu zählen beispielsweise Aprikosen, Bittermandeln, aber auch Pfirsiche, Pflaumen oder Zwetschgen.
Es handelt sich trotz des irreführenden Namens nicht um ein Vitamin. Wenn überhaupt ist es ein Pseudovitamin (= nicht als lebenswichtiger, von außen zuzuführender Nährstoff anerkannt).
Amygdalin ist ein cyanogenes (Blausäure abspaltendes) Glykosid, welches in Gegenwart von Wasser in das typische Bittermandelaroma (Benzaldehyd), Glukose und Mandelsäurenitrilglukosid gespalten wird. Letzteres zerfällt durch den Einfluss weiterer Enzyme in Cyanid, also Blausäure. Geringe Mengen Amygdalin kann der menschliche Körper abbauen.
Wenn Sie es genau wissen wollen:
Die Theorie der Amygdalin-Befürworter geht davon aus, dass das für den Abbau von Amygdalin benötigte Enzym (ß-)Glucuronidase gehäuft in Tumorzellen vorkommt. Die dort vermehrt freigesetzte Blausäure soll daher nur die Krebszellen absterben lassen. Die Entgiftung des Cyanids findet durch ein weiteres Enzym Rhodanase statt, dabei wird Cyanid in das ungefährlichere Thiocyanat umgewandelt. Nun wird spekuliert, dass dieses Enzym in Tumorzellen nicht vorliegt und die Blausäure dort nicht entgiftet werden kann. Für beides gibt es jedoch keine Belege.
Wie gefährlich ist Amygdalin?
Bittere Aprikosenkerne weisen einen hohen Gehalt an Amygdalin auf. Aus Amygdalin wird während des Kauens und bei der Verdauung Blausäure (Cyanid) freigesetzt. Kleine Mengen Blausäure kann der Körper entgiften, bei größeren Mengen kommt es zu schweren Vergiftungen bis hin zu Tod. Symptome der akuten Vergiftung sind z. B. Krämpfe, Erbrechen und Atemnot bis zur – tödlichen – Atemlähmung. Untersuchungen des niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES) haben Blausäuregehalte zwischen 1.949 mg/kg und 2.934 mg/kg Aprikosenkerne festgestellt.
Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sind in Deutschland keine Amygdalin-haltigen Fertig-Medikamente zugelassen. Ganz im Gegenteil sind Amygdalin-Produkte (inkl. Bittermandelwasser DAB 6) als für Menschen bedenkliche Rezepturarzneimittel eingestuft, so die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker.
Gefahr durch Blausäure
Die tödliche (letale) Dosis beim Menschen liegt bei ca. 50 mg Blausäure. Das entspricht etwa 0,5-3,5 mg/kg Körpergewicht. Die akute Referenzdosis (ARfD) liegt laut der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA bei 20 µg Cyanid pro Kilogramm Körpergewicht, unterhalb dieser Menge kommt es nicht zu akuten schädlichen Wirkungen. Als unbedenklich gelten Mengen bis zu 5 µg/kg Körpergewicht, wie sie durch gewöhnliche Lebensmittel niemals überschritten werden.
Je nach Schwere der Vergiftung reichen die Beschwerden von Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen über Atemnot bis hin zum Tod. Die gleichzeitige Einnahme von Vitamin C, aber auch ein Vitamin-B12-Mangel können das Risiko für eine Vergiftung erhöhen.
Ein einziger Aprikosenkern enthält bereits 0,5 mg Blausäure, so das BfR. Bei Kleinkindern besteht schon beim Verzehr von nur einem kleinen Aprikosenkern das Risiko einer Grenzwertüberschreitung.
Laut BfR sind aus der Literatur zahlreiche Fälle bekannt, bei denen nach dem Verzehr größerer Mengen an bitteren Aprikosenkernen schwere Vergiftungen auftraten, darunter auch Todesfälle von Kindern. Im Dezember 2014 berichtete das Deutsche Ärzteblatt von einem vierjährigen Kind, welches nach der Einnahme eines oralen Amygdalin-Präparates eine Zyanid-Vergiftung erlitt. 2017 wurde von durch Amygdalin verursachten Komplikationen bei einer OP berichtet.
Seit August 2022 gibt es auch Höchstgehalte für Blausäure in Lebensmitteln wie Leinsamen, Mandeln und Maniok. Mandeln dürfen höchstens 35 mg/kg Blausäure enthalten (bis zu 3.000 mg/kg wurden bereits gefunden). Ausnahme: Wenn der Warnhinweis "Nur zum Kochen und Backen verwenden. Nicht roh verzehren!" im Hauptsichtfeld (Frontetikett) vorhanden ist, dürfen sie mehr enthalten.
Die Höchstmenge bei bitteren Aprikosenkernen beträgt 20 mg/kg (und ist auf Anforderung der Behörde auch nachzuweisen), für Leinsamen für Endverbraucher 150 mg/kg (mehr mit obigem Warnhinweis), für Maniok- und Tapioka-Mehl 10 mg/kg.
Quellen:
Bundesinstitut für Risikobewertung: Zwei bittere Aprikosenkerne pro Tag sind für Erwachsene das Limit - Kinder sollten darauf verzichten. Aktualisierte Stellungnahme Nr. 009/2015 des BfR vom 7. April 2015 (abgerufen am 14.11.2023)
Milazzo, S. et al. (2007): Laetrile for cancer: a systematic review of the clinical evidence. Supportive Care in Cancer. 15(6), S. 583–595. doi:10.1007/s00520-006-0168-9
Jaszczak-Wilke E et al. (2921): Amygdalin: Toxicity, anticancer activity and analytical procedures for its determination in plant seeds. Molecules 26(8): 2253.
Bertsche T; Schulz M: Amygdalin – ein neues altes Krebsmittel? Pharmazeutische Zeitung Ausgabe 24/2003
National Cancer Institute: Laetrile/Amygdalin – Patient Information. Stand: 02.06.2022 (abgerufen am 14.11.2023)
National Cancer Institute: Laetrile/Amygdalin - Health Professional Version. Stand: 14.06.2022 (abgerufen am 14.11.2023)
Information der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK): Bedenkliche Rezepturarzneimittel, Stand: Mai 2018 (abgerufen am 14.11.2023)
Niedersächsisches Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (LAVES): Vorsicht beim Verzehr von bitteren Mandeln und bitteren Aprikosenkernen – Gefahr durch Blausäure. (abgerufen am 14.11.2023)
EFSA (2016): Acute health risks related to the presence of cyanogenicglycosides in raw apricot kernels and products derived from raw apricot kernels. EFSA Journal 14 (4): e04424
Blausäure-Vergiftung durch „Vitamin B17“. Deutsches Ärzteblatt online vom 12.12.2014 (abgerufen am 14.11.2023)
Aprikosenkerne: Extrakt löste Zyanidvergiftung aus. Deutsches Ärzteblatt online vom 14.09.2017 (abgerufen am 14.11.2023)
Lilienthal N (BfArM) (2014): Amygdalin – fehlende Wirksamkeit und schädliche Nebenwirkungen. Bulletin zur Arzneimittelsicherheit (3): 7-13, 2014
Milazzo S. und Horneber M: Laetrile Treatment for Cancer. Stand: 28.04.2015. Cochrane Database of Systematic Reviews (abgerufen am 14.11.2023)
Cochrane-Gesellschaft: Aprikosenkerne - kein Mittel gegen Krebs. Ernährungs Umschau online, Stand: 13.03.2019
S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen. Langversion 1.0 – Juli 2021 (abgerufen am 14.11.2023)
Verordnung (EU) 2023/915 der Kommission vom 25. April 2023 über Höchstgehalte für bestimmte Kontaminanten in Lebensmitteln und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1881/2006, Fassung vom 10.08.2023